Forschung

Es gibt eine Reihe von Möglichkeiten, sich mit Leben und Werk Johann Heinrich von Thünen zu beschäftigen. Der „Isolierte Staat“ und das von ihm darin entwickelte Modell der Thünenschen Kreise werden als wichtige Impulsgeber für eine Reihe von Wissenschaftsgebieten angesehen. Natürlich gibt es auch eine Reihe von Defiziten. Immer noch hemmt die fehlende Gesamtausgabe der Thünenschen Werke die Forschung. Das gilt nicht nur für die Wirtschaftswissenschaften, sondern für alle Bereiche der Thünenforschung. In diese Richtung geht auch die Forderung, den gedruckten Werken Thünens die im Thünen-Archiv befindlichen Entwürfe gegenüberzustellen, was bislang noch nicht geschah. Genauso ist es notwendig, den zweiten Abschnitt des zweiten Teils und den dritten Teil des „Isolierten Staates“ ins Englische zu übersetzen. Mit Sicherheit würde dies der Forschung eine Reihe von neuen Impulsen geben.

Wirtschaftswissenschaftliche Aspekte

Die Wirtschaftswissenschaftler, namentlich die Nationalökonomen, waren die ersten, die überregional Kenntnis von Thünens Werk nahmen. Im Focus ihrer Betrachtungen stand und steht der „Isolierte Staat“. Vier Komplexe kristallisieren sich bei der Beschäftigung heraus: die von Thünen vertretene Grenzproduktivitätstheorie, die damit verbundenen Überlegungen zur Standortwahl, seine Verteilungs- bzw. Lohntheorie, Thünens kapitaltheoretische Untersuchungen. Besondere Beachtung findet Thünen bei den Wirtschaftsgeographen. Seine landwirtschaftliche Standorttheorie bildet eine wichtige Grundlage dieser Disziplin. Vor allem im angloamerikanischen Sprachraum sind in den letzten Jahren eine Reihe von Artikeln zur Standorttheorie (location theory) erschienen, die auch Bezug auf Thünen nehmen. So findet es z.B. in einem Aufsatz über Kriminalität, Casinos und Vermögenswerte in New Jersey Anwendung! (A. J. Buck, J. Deutsch, S. Hakim, U. Spiegel, J. A. Weinblatt: Von Thunen model of crime, casinos and property-values in New-Jersey. – In: Urban studies 28 (1991) 5. – S. 673-686) Der allerdings nicht unumstrittene, amerikanische „Starökonom“ Paul Krugman vom Massachusetts Institute of Technology gehört zu den prominenten Vertretern der Thünenforschung unter dem wirtschaftswissenschaftlichen Aspekt.

Agrarwissenschaftliche Aspekte

Die Agrarwissenschaftler nahmen erst spät Kenntnis von Thünen, und hier waren es zuerst die den Wirtschaftswissenschaften nahestehenden Agrarökonomen. Theodor Brinkmann und Friedrich Aereboe machten Thünens Theorien Anfang des 20. Jahrhunderts zur Grundlage der von ihnen vorangetriebenen Erneuerung der landwirtschaftlichen Betriebslehre, die erst zu diesem Zeitpunkt als selbständige Wissenschaft akzeptiert wurde. Danach war es vor allem der Aereboeschüler Asmus Petersen, der der agrarwissenschaftlichen Thünenforschung seit den 1930er Jahren einen beträchtlichen Aufschwung verlieh, wovon sie heute noch profitiert. Neben der theoretischen Auseinandersetzung stand für ihn auch immer die praktische Anwendung Thünenscher Erkenntnisse im Vordergrund. Sein Werk über den „Isolierten Staat“ von 1944 zählt heute noch zu den Standardwerken der Thünenforschung. Heute sind es analog zu den Wirtschaftswissenschaften vor allem Fragen der Raumentwicklung und -nutzung, bei denen von Seiten der Agrarwissenschaften Bezug auf Thünen genommen wird.

Historische Aspekte

Aus Sicht der Geschichtswissenschaften besitzt die Beschäftigung mit Thünen ein großes Potenzial – nicht nur für biographische Forschungen (vgl. Biographien von Hermann Schumacher, Asmus Petersen und Renate Hippauf). Eine produktive Zeit erlebte die historische Thünenforschung in den 1940er/1950er Jahre. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Ansätze, deren biographische Fixierung zu durchbrechen und sie für agrar- und landesgeschichtliche Themen zu öffnen. Das Thünen-Archiv der Universität Rostock war  damals ein eigenständiges Institut. Dieser verheißungsvolle Aufbruch zu neuen Ufern fand sein Ende jedoch bereits Mitte der 1950er Jahre, als die „Neuere Rostocker Thünenforschung“ unter massiven ideologischen Druck geriet und zum Erliegen kam. Erst die Aktivitäten rund um den 200. Geburtstag Thünens führten in den 1980er Jahren wieder zu einem rasanten Aufschwung. Im Gegensatz zu den 1950er Jahren kam die ostdeutsche Forschung zu einer wesentlich differenzierteren Einschätzung der Leistung und Persönlichkeit Thünens. Mit der Einrichtung einer Thünenforschungsstelle im Jahre 1999 wurde die Absicht bekräftigt, diese Tradition weiter zu pflegen. Trotz der Ergebnisse, die sich sehen lassen können, steht die historische Thünenforschung immer noch am Anfang. Vor allem gilt es, verstärkt den Dialog mit den Wirtschaftswissenschaften und Agrarwissenschaften zu suchen, wovon alle Beteiligten profitieren können.

Philosophische Aspekte

Thünen waren die ökonomischen und sozialen Problemen seiner Zeit untrennbar miteinander verbunden. Mehr als andere bemühte er sich theoretisch, wie praktisch um eine Lösung der „sozialen Frage“. Diese Thematik berührte grundsätzliche philosophische Probleme, zu denen er auch Stellung nahm. Nach Werner Wilhelm Engelhardt, der mit seinen Arbeiten diesen Bereich der Thünenforschung maßgeblich prägte, vertrat Thünen „ein an Kant orientiertes, grundsätzlich naturwissenschaftliches Verständnis von Wissenschaft“ (Werner Wilhelm Engelhardt: Beiträge zur Thünen-Forschung. Regensburg 2000). Erste Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Ökonomie mit Bezug auf Johann Heinrich von Thünen finden sich bereits 1913 im Werke von Arno Friedrichs über „Klassische Philosophie und Wirtschaftswissenschaft“. 1922 promovierte der Kölner Betriebswirtschaftler Erich Gutenberg mit dem Thema „Thünens Isolierter Staat als Fiktion“. Dabei orientierte er sich am Fiktionalismus Hans Vaihingers, der eine eigenständige Form des Positivismus begründete. Ebenfalls in Verbindung gebracht wurden Thünens Methodik und inhaltliche Theorien mit der Wissenschaftstheorie Karl Poppers, so etwa durch Werner Wilhelm Engelhardt.

Naturwissenschaftliche Aspekte

Bislang spielt die Beschäftigung mit der Anwendung der Naturwissenschaften durch Thünen eine untergeordnete Rolle in der Forschung. Die Anwendung und Gewinnung von Kenntnissen aus Chemie und Biologie bezieht sich dabei auf die Erfordernisse seines landwirtschaftlichen Betriebes und berührt daher immer auch agrarwissenschaftliche Fragestellungen.

Kurt Rauhe und Ingeborg Lehne, die auf dem Thünen-Symposium der Universität Rostock im Jahre 1983 „Über die ‚Statik des Landbaues’ aus der heutigen naturwissenschaftlichen Sicht“ referierten, betonten dass „die Arbeiten Thünens […] für uns als Ackerbauer auch heute noch […] eine grundsätzliche Bedeutung“ haben (Kurt Rauhe; Ingeborg Lehne: Über die „Statik des Landbaues“ aus der heutigen naturwissenschaftlichen Sicht. – In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock, Naturwissenschaftliche Reihe; Rostock 33/ 1984). Nach ihrer Ansicht hat Thünen zusammen mit Carl von Wulffen „die Grundlage für unsere heutige Humusersatzwirtschaft geschaffen“. Bereits in den 1950er Jahren hatte Asmus Petersen dies ähnlich beurteilt.

Neben der Untersuchung des Problemkreises Bodenstatik muss der Komplex Naturwissenschaften eine Erweiterung finden.

Mathematische Aspekte

Die Mathematik spielte im Leben Thünens eine große Rolle. Der isolierte Staat ist durchdrungen von Formeln. Wilhelm Roscher veranlasste dies zu der Feststellung: „Was er erforscht hat, scheint ihm nur dann fertig, wenn er es durch algebraische Formeln auszudrücken vermag.“ Nach Werner Wilhelm Engelhardt hat Thünen „als einer der ersten in Deutschland überhaupt mehrere Zweige der Mathematik zur land-, wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Forschung herangezogen.“ Doch dies stieß nicht nur auf Zustimmung. Bis ins 20. Jahrhundert bestanden Vorbehalte gegen Thünens Mathematik – ebenso wie es eine Reihe prominenter Fürsprecher gab. Joseph A. Schumpeter, sicherlich einer der einflussreichsten Volkswirtschaftler des 20. Jahrhunderts, erwähnte ihn in diesem Zusammenhang bereits 1906 in dem in der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung erschienen Aufsatz über die mathematische Methode in der theoretischen Ökonomie. In seiner 1954 erschienenen, vielbeachteten „History of economic analysis“ nennt er als einen Grund für die Bedeutung Thünens u.a. die Einführung der Differenzialrechnung in die Wirtschaftswissenschaften durch ihn. Ähnlich positiv äußerten sich Walter Braeuer, Richard Krzymowski  und Erich Schneider. Ganz konkret beschäftigte sich Wilhelm Scholler 1949 mit dem speziellen, von Thünen aufgestellten und gelösten, mathematischen Problem der mittleren Entfernung eines Punktes von einer Fläche.